Lebensgeschichten, Erinnerungen und Trauerfälle

Die letzten beiden Jahre waren in unserer doch relativ kleinen Famile geprägt vom Älterwerden. Und damit verbunden, von Todesfällen. Als vor noch nicht ganz zwei Jahren mein Onkel starb, wurde uns, der folgenden Generation, klar, dass die nächsten Familientreffen wohl eher bei Beerdigungen statt finden würden.

Nun sind innerhalb von drei Monaten beide Schwestern und die Lieblingscousine meines Vaters gestorben. Menschen seines Alters, mit denen er noch hin und wieder telefonierte. Der Lauf des Lebens. Sie waren fast 87, 89 bzw. 95 Jahre alt. Alle konnten sie zu Hause in ihren Betten friedlich einschlafen. Sie hatten ihr Leben gelebt, jede auf ihre Art und das Sterben gehört dazu.

Seit meine Eltern nicht mehr in ihrem ‚Zuhause‘ wohnen  und – wie mein Vater anmerkte – auch nicht in ihrem Zuhause sterben werden, reden wir viel mehr wie früher. Das mag daran liegen, dass ich wesentlich öfter in die alte Heimat fahre und sie besuche, aber auch, dass ich mir einfach mehr Zeit nehme, bei ihnen zu sitzen und mir ihre Geschichten anhöre.

Als mein Vater nun innerhalb so kurzer Zeit Abschied von seinen beiden Schwestern nehmen musste, hatte meine eigene Trauer viel mit ihm zu tun. Mit Mitleid, mit dem Bewusstsein, dass er und meine Mutter nun ‚übrig‘ bleiben, die letzten ihrer Generation in der Familie sind.

Wir haben die Gelegenheit genutzt über Erinnerungen zu sprechen. Das ist schön, für beide Seiten. Ich höre – spät, aber vielleicht nicht zu spät – Geschichten von früher. Als sie Kinder waren, als der Krieg begann, wie und wann er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, wie die Schwester ihn unterstützte bei der Ausbildung danach, wie das Leben im französischen Saargebiet war und so viel mehr. Ich sollte sie aufschreiben, die Geschichten, sie werden verloren gehen. So vielen Geschichten in so vielen Familien wird genau das passieren. Denn wer will sie noch hören, wenn sie nicht mehr mit der eigenen Biographie verknüpft sind. Also werden es jetzt meine Erinnerungen.

So, wie die Tanten, der Onkel und alle anderen mit meinen Erinnerungen verbunden sind. Mit dem Tod der Tante, die für uns Nichten und Neffen immer nur die ‚Goth‘ war, geht auch für mich eine Epoche meines Lebens zu Ende. Bis zuletzt haben die beiden Schwestern noch im Elternhaus gelebt, dem Haus in dem auch meine Großeltern lebten und starben. So etwas findet man nicht mehr. Mein ganzes Leben bin ich dorthin gefahren, früher fast jedes zweite Wochenende, zu Ostern, zu Weihnachten, zu den Geburtstagen. In den letzten Jahren nur noch selten, aber willkommen war ich immer. Ich konnte einfach hin. Jetzt ist niemand mehr dort.

Wir, die Cousins und Cousinen, haben noch einmal beieinander gesessen im Haus und haben uns gegenseitig Erinnerungen erzählt. Das war gar nicht melancholisch, sondern hat sich aus der Situation ergeben und kam von ganz alleine. Jeder hatte andere Erinnerungen, aber alle konnten sich an die Geschichten erinnern. Trauer wollte dadurch gar nicht so recht aufkommen, weil eben alles so, wie es ist, gut ist.

Schon lange habe ich mich mit dem Leben nicht mehr so versöhnt gefühlt wie nach der letzten Trauerfeier. Vielleicht weil ich den Eindruck hatte, dass die ‚Goth‘ ihr Leben in Frieden zu Ende gelebt hat, sie mit sich und der Welt im Reinen war und das ist ein schöner Gedanke. 

Den möchte ich festhalten, auch für mich. Denn so sollte es sein. 

 

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